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Advent, Advent, drei Kerzen brennen

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Sonntag, 11. Dezember 2011

Santa Claus

 

Dunkelheit lag über der Stadt. Irgendwo in der Ferne heulte eine Sirene, Hunde bellten und jemand brüllte, der blöde Köter solle seine Schnauze halten, oder er würde ihm das Maul stopfen.

Die Erwiderung ließ nicht lange auf sich warten; die keifende Stimme einer Frau: „Wenn du meinem Jacky auch nur ein Haar krümmst, kannst du deine Eier im Dreck suchen gehen.“

Es war der ganz normale Wahnsinn in East Los Angeles. So, wie man ihn an jedem Tag im Jahr erleben konnte.

 

Auch heute, am Christmas-Eve.

 

Die Menschen hier hassten sich aus tiefster Seele. Das konnte auch der dickbäuchige, rotnasige Santa Claus nicht ändern, der schon seit Stunden durch die Straßen streifte und jedem ein Merry Christmas oder Ho-Ho-Ho zurief. Manchen schenkte er auch eine Orange oder etwas Schokolade.

 

Um ehrlich zu sein – langsam aber sicher ging er mir gewaltig auf die Nerven. Zuerst war es ja lustig, aber inzwischen schien er uns regelrecht zu verfolgen. Egal wo auch immer wir auftauchten – er war ebenfalls dort. Allerdings hatte der Umfang seines Sacks auf dem Rücken beträchtlich abgenommen, so dass er vermutlich bald den Heimweg antreten würde.

 

Aus den Gullys stieg Dunst auf, die Straßenbeleuchtungen funktionierten nur noch teilweise und an den kleinen Shops flackerten  Neonlichter. Ein paar Lebensmittelgeschäfte gab es, einen Liqueur-Shop und auch einen Videoverleih. Daneben Zeitschriften, Tabakwaren und all das, was der Mensch zum täglichen Leben braucht. Die meisten Geschäfte hatten inzwischen geschlossen. Schwere Rolltore verdeckten Türe und Fenster, um es Einbrechern so schwer wie nur eben möglich zu machen. Einzig die Schilder über den Eingängen verrieten noch, was es dort zu kaufen gab.

 

Eine merkwürdige Stille herrschte, als wir die Zwölfte verließen und in die Allanby einbogen. Raus aus dem spärlichen Zwielicht und rein in eine noch unwirtlichere Gegend.

 

Müllcontainer standen rechts und links an den Häuserwänden, es stank nach Müll und nach Fäkalien. Ein streunender Hund hob sein mageres Bein, ignorierte uns und erledigte sein Geschäft, bevor er um die nächste Ecke verschwand. Offenbar hatte er nach Nahrung gesucht, denn ein Müllsack lag zerrissen und halb entleert auf dem Pflaster.

 

„Kannst du mir mal sagen, was wir in dieser gottverdammten Gegend suchen? Scheiße Max – es ist Weihnachten. Willst du an Christmas Eve abgeknallt werden?“

 

Mit einem Kopfschütteln legte ich meiner dienstlichen und privaten Partnerin die Hand auf die Schulter.

 

„Nein, darauf hab ich wahrlich keine Lust. Aber hier ist gerade an diesem Abend öfter mal die Kacke am Dampfen. Dafür sind wir Polizisten, Francine, oder?“

Sie schüttelte unwirsch den Kopf und löste den kleinen Knopf, der die Waffe im Holster sicherte. So, als wolle sie kein Risiko eingehen.

 

Vielleicht hatte sie Recht. Vielleicht war es wirklich unklug, in Uniform und ohne Verstärkung hier durch die Allanby zu laufen. Niemand sonst tat es, und die meisten Kollegen hielten uns vermutlich für verrückt. Aber es war nun einmal meine Auffassung von Job. Nicht im Streifenwagen umher fahren und das Verbrechen beobachten, sondern auch mal durch die Straßen laufen und sich Brennpunkte direkt anschauen. Ob es der Vorabend zu Weihnachten war oder nicht.

 

Ein Informant hatte uns gesteckt, dass es in dieser Straße nicht nur zu größeren Drogendeals kam, sondern hin und wieder Frauen vergewaltigt wurden. Nutten zwar, die drei Querstraßen weiter anschaffen gingen, aber trotzdem. Auch Prostituierte wollten und durften nicht Opfer von Vergewaltigungen werden.

 

„Ho, Ho, Ho, ihr fleißigen Beamten. Es ist eine Wonne, euch zuzusehen.“

 

Der dicke Santa kam aus einem dunklen Hauseingang und lächelte über sein rotes, breites Gesicht. Erschrocken hatte Francine nach ihrer Waffe gegriffen, steckte sie nun aber wieder zurück in den Halfter.

 

Wütend funkelte sie den Mann an, der inzwischen etwas nach Alkohol roch. Nicht viel, und er war auch nicht betrunken. Aber genug, um es wahrzunehmen. Vielleicht hatte man ihm irgendwo Punsch angeboten.

 

„Verschwinden Sie endlich. Gehen Sie doch nach Hause, Mann. Seit Stunden laufen Sie hier herum.“

Santa schüttelte den Kopf und strich sich um den langen weißen Bart.„Noch nicht. Hab noch nicht alle Geschenke verteilt. Wir sehen uns.“

 

Damit winkte er, ließ ein letztes Ho, Ho, Ho hören und verschwand um die Ecke. Francine schüttelte den Kopf, während ich ihm grinsend nachschaute. Alles was Recht war – er nahm seinen Job ernst. Jeder andere wäre auf unsere Worte hin nach Hause gelaufen und hätte uns als Ausrede für einen faulen Abend vor der Glotze benutzt.

 

„Also los“, murmelte ich meiner Partnerin zu. „Gehen wir weiter. Bis zum Ende der Straße und wieder zurück. Anschließend fahren wir aufs Revier, hängen unsere Klamotten in den Spind und genießen die freien Tage. Wie klingt das?“

Francine nickte und warf mir einen Blick zu, der bereits alles sagte. Sie hatte das Haus geschmückt und vermutlich wartete ihre Mutter mit einem Braten auf uns.

 

Es war eine gute Idee gewesen, die alte Lady zu uns zu holen, nachdem Francins Vater im letzten Jahr gestorben war. Eleonora war noch rüstig und hielt das Haus in Schuss – als Gegenleistung dafür, dass sie bei uns wohnen konnte. Zudem steckte sie ihre Nase nicht in unsere Angelegenheiten.

 

„Wir könnten uns später ins Schlafzimmer zurückziehen, einen Film in den Rekorder schieben und ein wenig kuscheln. Wie klingt das?“

 

Allein ihre Stimme machte deutlich, wie weit dieses Kuscheln gehen sollte.

 

Ein Vorschlag, der mich begeistern konnte.

 

Es war genau das, was ich so an ihr liebte; ihre Sinnlichkeit und ihre Empathie. Sie schien stets zu wissen, wie es mir ging und was ich brauchte, um den Fokus zu behalten.

 

„Also schön. Dann lass uns diesen Mist hier …“

 

Weiter kam ich nicht mehr, denn vor uns, knapp zehn Meter entfernt, tauchte ein Schatten auf. Ein Junkie, wie es aussah. Er schwankte etwas, hielt sich aber auf den Beinen und kickte gegen eine Mülltonne, die daraufhin scheppernd umfiel. Hohl und metallen hallte der Krach zwischen den Häusern wider, schien den Mann zu irritieren, denn er blieb stehen und starrte uns entgegen.

 

So einer hat uns ja gerade noch gefehlt“, murmelte meine Partnerin, legte ihre Hand auf den Griff der Waffe und blieb zurück, während ich zwei oder drei Schritte auf den Junkie zuging.

 

„Alles klar mein Freund?“

 

Er nickte gedehnt, schwankte wieder und legte den Kopf schief. Dabei taxierte er uns, und ich sah in seine Augen.

 

Sein Blick war klar, keine Spur von Drogen oder Alkohol.

 

Eine Falle, schoss es mir durch den Kopf. Aber noch bevor ich reagieren konnte, riss er den Arm in die Höhe. Etwas blinkte und ich begriff, dass er ebenfalls eine Waffe besaß. Gleichzeitig und noch bevor Francine oder ich hätte reagieren können, fielen Schüsse.

 

Doch nicht er hatte geschossen, sondern jemand hinter uns.

Kreuzfeuer.

 

Mit einem Sprung hinter eine Mauer versuchte ich, aus der Schusslinie zu kommen und feuerte dabei auf den vermeintlichen Junkie.

 

Er wurde getroffen und fiel, während hinter mir Flüche zu hören waren. Wieder schoss jemand – diesmal Francine. Sie lag auf dem Boden, hatte sich etwas gedreht und hielt ihre Waffe in der Hand. Schritte erklangen, entfernten sich rasch.

 

„Alles in Ordnung, Kleines?“

 

Ihre Hand sank zu Boden und ein Zittern lief durch ihren Körper. Rasch verließ ich meine Deckung, lief zu ihr und ging neben ihrem Kopf in die Knie. Wer auch immer geschossen hatte, war entweder tot oder geflohen. Gut zwanzig Schritte entfernt lag ein Körper auf dem Boden und auch der Junkie regte sich nicht mehr.

 

„Francine, bist du …“

 

Die Worte blieben mir im Halse stecken. Blut lief aus einer hässlichen Wunde, verteilte sich unter meiner Freundin. Ihr Atem ging stoßweise, ihre Lider flatterten.

 

„Max, ich …“

 

Ihre Stimme erstarb.

 

Noch hielt sie Augenkontakt mit mir, doch noch bevor ich mich von ihr verabschieden konnte, legte sich der Schatten des Todes über ihr Gesicht. Sie starb, und es gab nichts, was ich hätte dagegen tun können.

 

In diesem Moment glaubte ich, den Verstand zu verlieren. All mein Schmerz, all meine Trauer entlud sich in einem Schrei, bevor Tränen über meine Wangen liefen und ich den toten Körper meiner Freundin an mich drückte.

 

Warum zur Hölle waren wir nicht einfach draußen auf der Zwölften geblieben?

 

Oder noch besser – warum waren wir nicht einfach im Wagen geblieben, um uns einen ruhigen Dienst zu gönnen?

 

Überstunden abbauen, die Verbrecher einfach in Ruhe lassen.

 

Es war Weihnachten, verdammt noch mal.

 

Warum hatte ich Francine in diese Straße schleppen müssen?

 

Es war meine Schuld, dass sie nun tot auf dem harten Boden lag.

 

Meine Schuld, sie verloren zu haben.

 

Warum sie, und nicht ich?

 

Warum hatte sie diese Kugel erwischt?

 

Es war meine Idee gewesen, hier zu patrouillieren. Wenn schon, hätte sie mich töten müssen, und nicht sie.

 

Warum? So viele Warums und keine beschissene Antwort.

 

„Ho, Ho, Ho.“

 

Die Stimme des Mannes erklang kaum fünf Schritte von mir entfernt. Verdammt, was wollte dieser Spinner? Sah er nicht, was hier passiert war? Sah er nicht, dass meine Freundin und Partnerin tot auf dem Boden lag? Er konnte sich sein Ho-Ho-Ho in den Arsch schieben.

 

 „Verschwinde. Verschwinde endlich und lass mich allein. Siehst du nicht …“

 

 Tränen ließen meine Stimme ersticken.

 

Francine war tot.

 

Es brachte nichts, meine Wut an einem Mann auszulassen, der nur seinen Job tat. Andererseits war es mir scheißegal, ob es ihn treffen würde oder nicht, ob er sich beschwerte oder nicht oder ob er mir eine verpasste.

 

„Verschwinde endlich, du verdammter Idiot. Verschwinde und geh zum Teufel.“   

 

Der Mann verschwand nicht, sondern ging neben mir in die Knie, um auf Francines leblosen Körper zu schauen.

 

„Es tut mir leid“, murmelte er und strich ihr über die Wangen. „Es ist eine Tragik, wenn Menschen sterben, nur weil sie ihrer Pflicht nachkommen.“

 

Damit wandte er sich ab und griff in seinen Sack.

 

„Ein Geschenk ist noch übrig geblieben. Frohe Weihnachten, Max. Und frohe Weihnachten auch dir, Francine.“

 

Er nahm die Hand aus dem Sack und streute etwas Pulver in die Luft. Es glitzerte leicht im Schein einer dünnen Straßenlampe, bevor es  geräuschlos auf uns hernieder regnete.

 

Dann …

 

„Kannst du mir mal sagen, was wir in dieser gottverdammten Gegend suchen? Scheiße Max – es ist Weihnachten. Willst du an Christmas Eve abgeknallt werden?“

 

Francine schaute mich an, und in ihrer Stimme lag eine leise Anklage. Wir standen an der Kreuzung Zwölfte und Allanby.

Verständnislos starrte ich sie an, schaute in die Straße hinein, in welche wir gehen wollten.

 

Wieso standen wir hier und wieso war sie nicht …?

Ich begriff. Auch, wenn es mir schwer fiel, so begriff ich doch. Mein Herz schien von einer Zentnerlast befreit und im Stillen danke ich … Santa …

 

„Du hast vollkommen Recht. Diese Scheiße hier können wir uns auch nach unserem Urlaub ansehen. Also komm – verschwinden wir. Im Revier gibt es sicherlich Gebäck und Punsch.“

 

Wir liefen die Zwölfte entlang zu unserem Wagen.

 

Es wurde Zeit, Weihnachten zu feiern …

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