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Advent, Advent, vier Kerzlein brennen

Abgelegt unter Allgemein
Sonntag, 18. Dezember 2011

Jul

 

Es schneite.

Schon seit Tagen fiel die weiße Pracht vom Himmel, bedeckte die Erde, Pflanzen und die Wege.

Auch die Felder versanken unter dem gefrorenen Wasser, und mit ihm schien die Zeit einzufrieren.

Der kleine Bach, der sich seinen Weg vom Hügel hinab suchte, war zu Eis erstarrt. Ebenso wie die Geräusche in der Luft nahezu verstummt waren. Die meisten Vögel sangen nicht mehr oder hatten das Land verlassen, als die Temperaturen sanken.

So wie jedes Jahr.

Und so wie in jedem Jahr würden sie zurückkehren, sobald der Winter schwand.

Zumindest hoffte dies die junge Frau, die etwas ängstlich am Fenster ihrer Hütte stand und in den grauen Tag hinaus schaute. Die Kälte und die frühe Dunkelheit ängstigten sie. So, wie sie schon ihre Eltern geängstigt hatten. Jedes Jahr aufs Neue fragte sich Alyona, ob dies der Ewige Winter sei, der mit drei aufeinander folgenden Kältezeiten das Ende der Welt einläutete. Wenn, würde dies das letzte Jul sein, welches sie beging.

Aber bestand diese Gefahr nicht ohnehin? Dann nämlich, wenn die Christen jedes einzelne der alten Feste verbieten würden. So, wie sie es bereits angedroht und am zurückliegenden Beltaine auch durchgesetzt hatten!

Würden die Christen wieder durch das kleine Dorf patrouillieren, um die Festlichkeiten zu kontrollieren?

Kein Jul, sondern Weihnachten.

Dabei spielte es doch gar keine Rolle, wen die Menschen in dieser Nacht des Hochfestes anbeteten.

Alle Götter waren ein Gott, und alle Göttinnen waren eine Göttin. Spielte es eine Rolle, ob die Sonne ihren Sohn gebar, um den Menschen das Licht zu bringen, oder ob eine Maria ihren Sohn Jesus gebar, um den Menschen das Heil zu bringen?

Alyona sah keinen Unterschied und vor allem verstand sie nicht, warum die Christen darauf bedacht waren, hierin einen Unterschied zu machen und ihnen ihren Glauben zu verbieten.

Noch immer stand sie am Fenster und schaute hinaus. Bald würde sich der Tag zur Nacht wandeln, würde es Zeit werden, das Hochfest zu begehen.

Nicht alleine, sondern gemeinsam mit ihren Freunden und Bekannten.

So, wie sie es von klein auf gewohnt war und so, wie es viele taten.

Trotz der Christen.

Oder gerade wegen ihnen?

Sie schaute hinaus und ließ ihren Blick schweifen.

Früher einmal hatte dort, im Osten, Avalon gelegen – die Apfelinsel.

Ihre Mutter hatte ihr oft Geschichten von dort erzählt. Von den Priesterinnen, die als Beraterinnen und Weise den Fürsten und Königinnen gedient hatten. Von Artus und Morgaine, die als Halbgeschwister aufwuchsen, bis man sie trennte. Und natürlich von dem Merlin, dem Zauberer und obersten Druiden Avalons.

Er war es gewesen, der die Trennung vollzog, die Heilige Insel in den Nebeln verschwinden ließ. Nur die Priesterinnen konnten den Schleier weichen lassen, den Weg freigeben.

Doch Alyona war keine Priesterin. Obwohl sie es sich in dieser Zeit wünschte, denn dort auf der Apfelinsel konnten die Schwestern ihre Feste feiern und dem alten Glauben huldigen. Ohne Angst, von Christen daran gehindert zu werden und ohne Gesetz, welches ihnen die Zeremonie verbot.

Langsam wandte sich die junge Frau um, ging durch den Raum und blieb schließlich vor der Tanne stehen, welche sie in einer Ecke neben dem Kamin aufgestellt hatte. Ein grüner Kranz lag auf dem Tisch, Nüsse waren auf Schnüre aufgereiht und es roch nach Dörrobst und süßem Brot. Strohsonnen lagen herum und es wurde Zeit für Alyona, den Baum zu schmücken. Sie tat dies sehr liebevoll, denn sie mochte das Fest sehr.

Ihre Gedanken wanderten in der Zeit zurück.

Wie mochte es gewesen sein, bevor der römische Adler landete und die Christen die Macht übernahmen?

Gewiss, sie kannte die alten Erzählungen.

Joseph von Arimathäa war es gewesen, der hier auf Glastonbury das erste Kloster eröffnete. Die Druiden hatten ihm hierfür ein Stück Land gegeben, welches reich an Erdenergie war. Twelve Hides nannten sie es – zwölf Häute. Für sie war der Christengott nicht mehr als eine weitere Form ihres Gottes – vielleicht Belenus. Die Druiden ahnten nicht, dass ihre neuen Mitbewohner auf Glastonbury die Dinge anders sahen und bald schon beginnen würden, die Einheimischen von ihrem Glauben zu überzeugen. Vielleicht wäre es ihnen niemals gelungen, aber als der römische Adler landete, und mit ihm das Christentum in der gewalttätigen Form des Eroberers, blieb manchen nichts anderes übrig, als sich zu fügen.

Andere wiederum konvertierten aus freien Stücken zum neuen Glauben, sahen darin ihr Heil. Hatte nicht sogar Artus die alte Religion verraten, um gemeinsam mit seiner schönen Frau Guinevere dem neuen Gott zu huldigen?

Der Tod durch seinen Sohn – vielleicht eine gerechte Strafe hierfür.

Inzwischen war der Adler abgeflogen, doch das Christentum blieb.

Alyona ahnte, dass die Zeit den großen Wandel bringen würde. Wie lange noch konnten sie – wenn auch im Verborgenen – Beltaine, Samhain und Jul feiern?

Wie lange glaubten die Menschen noch an die Große Mutter, an Morrigán die Kriegsgöttin oder an Teutates, Belenus und Dagdar – den Vater der Tuatha?

Diese Generation, und vielleicht noch eine. Dann aber …

Alyona begriff, dass der Große Winter längst begonnen hatte. Doch er brachte nicht das Ende der Welt, sondern lediglich das Ende der Welt, wie sie es kannte.

Der alte Weg würde enden und einem neuen Pfad weichen. Wohin dieser führte, vermochte die junge Frau nicht zu sagen. Aber sie wusste, dass man sie eher töten müsse, bevor sie auch nur mit einem einzigen Gedanken ihrem bisherigen Glauben abschwor. 

Es war bereits später Abend, als ihre Gäste kamen. Sie brachten Geschenke und legten sie unter den Baum, bevor sie sich zu einem Mahl um den Tisch versammelten.

Kerzen brannten, und noch immer duftete es nach süßem Brot – aber auch nach Tannennadeln und der Frische des Winters. Doch anders als sonst wollte keine richtige Fröhlichkeit aufkommen.

Nicht nur Alyona spürte den Wandel, sondern auch jene, die mit ihr feierten. Es wurde zunehmend klarer, dass dies das letzte Jul-Fest sein konnte.

Schon jetzt fehlten einige, die sonst gerne zu Alyona gekommen waren. Bergit etwa, deren Mann zum Christentum konvertiert war und es seiner Frau untersagte, den heidnischen Bräuchen zu frönen.

Früher wäre es den Frauen niemals in den Sinn gekommen, sich dem Wort des Mannes in dieser Form zu beugen. Aber mit der Religion hatten sie auch ihre Stärke verloren, waren dem Mann nun Untertan.

Sie saßen beisammen, aßen und schwiegen.

Niemandem fiel ein, womit diese Stille hätte unterbrochen werden können. Sie war undurchdringlich und angefüllt mit Ängsten und Befürchtungen. Vor allem aber mit Unverständnis.

Schließlich, nach dem Abendessen, setzten sie sich in einen Kreis und löschten die Kerzen. Es war die Zeit, der Dunkelheit nachzuspüren und sich auf die Geburt des Lichtes zu freuen. Leise summend stimmten sie sich ein auf den Moment, in dem sie die Kerzen erneut entzünden würden. Um das Licht willkommen zu heißen und den Winter allmählich zu verabschieden.

Die Raunächte standen ihnen noch bevor, doch von nun an wurden die Tage wieder länger. Und dies allein löste normalerweise die Angst vor dem Großen, dem Ewigen Winter.

Sie unterbrachen gerade ihren Gesang, um sich eine typische Jul-Geschichte zu erzählen, als sie draußen, vor dem Haus, Schritte und Stimmen vernahmen.

Gleichzeitig sahen sie die Fackeln. Es waren Männer, die von Haus zu Haus zogen und kontrollierten, welches Fest an diesem Abend gefeiert wurde.

 Christen, die das Gesetz durchsetzen wollten, welches heidnisches Brauchtum untersagte und den Menschen gebot, Weihnachten zu feiern.

Alyona wusste, dass ihre Zeremonie damit zu Ende war. Mehr noch – man würde sie und ihre Freunde bestrafen für das, was sie taten.

Angst erfasste die Gruppe, während die Gespräche der Männer vor der Tür deutlicher und lauter zu hören waren.

Schließlich hob Alyona die Arme und schloss die Augen. Sie hatte stets auf die große Mutter vertraut, und wenn sie jemals deren Hilfe gebraucht hatte, dann in diesem Moment.

Stumm murmelte sie ein Gebet, rief Ceredwin – die große Göttin – an und erflehte deren Beistand. Wie konnte sie, auf die so viele Menschen vertrauten und zu der ein ganzes Volk gebetet hatte, zulassen, dass man ihnen die elementarsten Feiern nahm?

Erst das Pochen an die Tür unterbrach ihr Gebet. Es war verhallt, wie all die Gebete zuvor, welche die Gläubigen an die große Mutter gerichtet hatten.

Einzig den Schwestern der Heiligen Insel war es gelungen, sich und ihre Welt zu retten. Aber an diesem Abend gab es keinen Merlin, der die Nebel aufziehen lassen konnte. Es gab keine Priesterin von Avalon, und niemand kam, um der kleinen Gruppe zu helfen.

Erneut klopfte es, und Alyona erhob sich, um resignierend zu öffnen. Sollten die Christen kommen und ihren Baum zerstören. Sollten sie schreien und von ihrem Gott sprechen, der keine anderen Götter neben sich duldete.

Sollten sie doch alle bestrafen.

Laut quietschten die Angeln der Holztür, als die junge Frau öffnete. Sie sah die Männer und deren Fackeln, hörte deren Stimmen. Aber sie sah auch den Nebel, der dick und weiß die Straße entlang waberte.

Dichter und dichter wurde er von Sekunde zu Sekunde. Längst war es für die Christen unmöglich, Alyona, das Haus oder die Straße zu erkennen.

Sie gestikulierten wild, ohne die Magie zu begreifen, welche sich just in diesem Moment abspielte.

Schließlich wurden die Schwaden auch für die junge Frau undurchdringlich, die noch immer an der geöffneten Tür stand und sah, was geschah.

Hinter ihr erklang unterdrückter Jubel. Auch ihre Freunde hatten das Unfassbare gesehen, erlebten die Magie der großen Mutter nun hautnah.

Plötzlich, von einer Sekunde zur anderen, kam ein heftiger Wind auf und ließ die Nebelschwaden zerfasern. Er blies sie hinweg, als seien sie lästig und nicht länger von Nutzen.

Fast schon fürchtete Alyona, nun doch den Christen gegenüber zu stehen.

Aber dies war nicht der Fall.

Stattdessen sah sie drei Schwestern in langen, hellen Gewändern. Auch hatte sich ihre Umgebung verändert, befand sich das Haus nicht länger in einer langen Reihe anderer Gebäude in der Mitte der Straße. Es stand nun etwas einsam, am Rande einer kleinen Siedlung. Gegenüber auf dem Berg erhob sich ein Kloster. Nicht Glostenbury Abby, sondern …

„Euch ist heute das Licht geboren, und die Sonne auferstanden. Fürchtet Euch nicht, denn die Christen haben nicht länger Macht über Euer Handeln und über Euren Glauben. Willkommen im Reich der Großen Mutter.“

Es waren teils traditionelle Worte, teils eine Begrüßung.

Alyona trat aus dem Haus und schaute sich um. So etwas wie Ehrfurcht packte sie, während die Priesterinnen lächelten und ihnen kleine Töpfe mit Dörrobst überreichten.

„Nehmt dies als Geschenk und setzt Eure Feier fort. Nichts wird sie jemals wieder stören.“

Damit wandten sich die Frauen ab und gingen den Hügel hinauf zu dem Kloster. Ein großes Feuer brannte auf der Wiese davor. Die Dunkelheit war besiegt, die Sonne wiedergeboren.

„Sind wir … Ich meine, ist dies …“

Nooren – ein Mädchen auf der Schwelle zur Frau – schaute sich ängstlich um.

Alyona nickte und nahm ihre Freundin in den Arm.

„Ja, Nooren. Wir sind dem Ewigen Winter entkommen, der ganz Britannien umfangen hält. Wir sind auf Avalon.“

 

Ende

  

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