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Advent, Advent, das dritte Kerzlein ...
... brennt!
Und wie an den Sonntagen zuvor stelle ich auch heute wieder eine Kurzgeschichte ein, geschrieben vor einigen Jahren für den Weihnachtsmarkt in Durlach. Diesmal heißt die Geschichte Weihnachten eines Vampirs und beschreibt das Fest der Liebe aus Sicht eines Blutsaugers. Nachdenklich vielleicht, und passend zum dritten Advent.
Viel Spaß damit :-)
Weihnachten eines Vampirs
Die schwere Glocke von St. George ruft zur Christmette. Tief dröhnt ihr Klang über die Felder, bis hinauf zu der kleinen Burg am flachen Hang des Berges. Ihr Ton dringt in jeden einzelnen Raum des Gemäuers. Trotz der Entfernung und trotz der dicken Wände hat sie nichts von ihrem lieblichen Klang verloren. Sie lockt, denn in ihr schwingen Liebe und Vergebung, schwingt die frohe Botschaft des Weihnachtsfestes. Ein Versprechen - so großartig, dass es jeden Gläubigen mit Zuversicht zu erfüllen vermag.
So zumindest hatte es mir meine Mutter erklärt. Damals – 1888.
In London wütete Jack the Ripper, Queen Viktoria regierte mit eiserner Hand und große Teile der Welt standen unter der Herrschaft des britischen Empires.
Auf Hunting Castle bedeutete all das wenig. Gewiss, wir waren stolz auf die Größe unseres Landes und auf seine Stärke. Wir sahen die Welt mit den Augen des Adels und begriffen nicht, dass die meisten Menschen ein völlig anderes Leben lebten. Für mich als jungen Edelmann waren die Dinge vorgezeichnet. Mein Platz inmitten alledem schien so sicher wie der Morgen nach einer dunklen Nacht oder das Amen am Ende des Gebets. Nichts schien in dieser Zeit die Idylle, welche wir auf Hunting Castle empfanden, den Frieden in uns und mit uns oder die Beschaulichkeit der kleinen, englischen Grafschaft stören zu können.
Abende am prasselnden Feuer des Kamins. Jagden mit Freunden und Besuche in der Stadt. Sonntagsgebete in St. George, der schmucken Kirche mit dem großen, doppelflügeligen Altar. Er zeigte Schnitzereien eines bekannten Künstlers; mit Blattgold verzierte Figuren in Szenen aus dem neuen Testament.
Ich erinnere mich an mein letztes Weihnachtsfest in St. George. Ein großer Baum schmückte den Bereich hinter dem Altar, Kerzen brannten und der Pfarrer trug ein besonders prächtiges Gewand. Der Klang der großen Glocke, der uns gelockt hatte und die Töne der Orgel, welche erst im Spätherbst neue Flöten erhalten hatte. Eine Schenkung meines Vaters. An die Kirche, aber auch an Gott, wie er es ausdrückte.
Dieses eine Christfest 1888 war das vielleicht schönste Weihnachten meines Lebens, und es war gleichzeitig das letzte, welches ich unbeschwert im Schoße meiner Familie feiern konnte. Denn im Januar traf ich Madeleine.
Madeleine war schöner als jede andere Frau, die ich jemals zuvor gesehen hatte. Ihre Ausstrahlung, ihre Eleganz und ihre Stärke nahmen mich gefangen, ließen mich, den unerfahrenen, jungen Gentleman mit feuchten Händen und sprachlos vor eigener Unsicherheit zurück. Als Gast meiner Eltern wohnte sie im separaten Trakt der Burg, war dort abgestiegen mit ihrer noch jungen Dienerin Thabita. Eine Frau mit bronzener Haut und gelocktem, schwarzen Haar. Sie versprühte eine Exotik, die man im viktorianischen England nur schwerlich fand, und doch schaffte sie es nicht, meine Aufmerksamkeit von Madeleine abzulenken. Bei Tage ließ ich keine Gelegenheit aus, meine Zeit mit der Französin zu verbringen und bei Nacht träumte ich von niemand anderem als von ihr. Es waren die typischen Träume eines nahezu Erwachsenen, und in meiner Phantasie erlebte ich ein intimes Zusammensein wieder und wieder.
Wie leicht hatte es Madeleine, als sie eines Abends an meine Tür klopfte, damit den Schritt aus meiner Phantasie hinein in die Wirklichkeit tat. Kein Widerstand, als sie auf meinem Bett Platz nahm und sich mir mit ihrer betörenden Art näherte. Wir küssten uns. Mein Kuss war der eines Jünglings. Ihr Kuss hingegen war der erfahrene Kuss eines Vampirs, mit dem sie mich zu einem Geschöpf der Nacht machte.
In jener Nacht schenkte sie mir die Unsterblichkeit.
Aber welchen Preis hatte ich hierfür zu zahlen? Meine Eltern verstießen mich, sahen in mir das Monster, welches ich vielleicht auch bin. Meine Freunde durften mich nicht mehr sehen, meine Existenz wurde verleugnet. Abgeschieden im Südturm von Hunting Castle hatte ich fortan meine Gemächer, ging bei Nacht auf die Jagd nach jenem Elixier, welches Goethe als ganz besonderen Saft beschrieben hatte. Er nährte mich - durch die Jahre und Jahrzehnte hindurch.
Die Zeit hatte den Schrecken des Alterns verloren. Sie hatte jedoch den Schrecken der Ewigkeit gewonnen. Ohne die Chance, das Tageslicht zu sehen und mich unter den Menschen zu bewegen, wie ich es gewohnt war, wurde ich zu einem Gefangenen meiner Existenz. Unfähig, die Kraft und Stärke meines Wesens auszuschöpfen, erlegen meinen Trieben und meinem Adelstand, der mich an die Burg zu fesseln schien. Die Menschen in der nahen Stadt hätten mich verfolgt, verbrannt oder dem Sonnenlicht ausgesetzt, wenn sie nur geahnt hätten, welche Bestie ab nun in der Burg lebte. Aber sie wussten es nicht, denn weder meine Eltern noch die Bediensteten verloren auch nur ein Sterbenswort über das, was sich auf Hunting Castle abspielte.
Die Jahre zogen dahin wie ein graues Band. Sie glitten an mir vorüber. Meine Eltern alterten, starben und es gab nichts, was ich dagegen hätte tun können. Die Monate verstrichen in atemberaubendem Tempo. Ich sah Viktoria sterben und die beiden Kriege toben. Die Atombombe, der erste Mann auf dem Mond und Vietnam. Prinzessin Diana kam und starb in Paris bei einem sinnlosen Unfall. Aber ist nicht all das sinnlos? Angefangen vom 11. September und Afghanistan bis hin zu einem Krieg, der andere Kriege verhindern sollte und unlängst im Irak Menschenleben kostete und noch immer kostet?
Hiermit schließt sich der Kreis, denn wir sind wieder im Hier und Jetzt.
Die schwere Glocke von St. George ruft zur Christmette. Tief dröhnt ihr Klang über die Felder, bis hinauf zur kleinen Burg am flachen Hang des Berges. Ihr Ton dringt in jeden einzelnen Raum des Gemäuers. Trotz der Entfernung und trotz der dicken Wände hat sie nichts von ihrem lieblichen Klang verloren. Sie lockt. Auch mich. Und doch weiß ich, dass ihr Klang einmal mehr verhallen lassen muss, ohne dass ich ihm folgen kann. Gesegneter Boden – unmöglich für einen Vampir, darauf zu gehen. Die Gebete und Gesänge der Gläubigen – Schmerzen in den Ohren eines Blutsaugers.
Es ist einsam auf Hunting Castle. So einsam. Nur ein Diener, der mich durch die letzten dreißig Jahre begleitet hat. Ein Vertrauter, um mein Geheimnis wissend. Keiner sonst kommt auf die Burg. Kein Besuch, kein Postbote. Niemand schreibt einem Vampir und niemand seinem Diener, der von den Menschen ebenso vergessen wurde wie sein Herr. Der letzte Diener, denn nach seinem Tode bleibt nur die absolute Einsamkeit. Verlassen von jenen, die mich in jungen Jahren durch das Leben begleiteten und unfähig, mir ein neues Gefolge zu suchen. Wusste Madeleine, was sie mir antat? Ahnte sie, dass es für mich anders sein würde als für sie und andere, die durch die Welt streifen auf ihrer Suche nach Nahrung?
Schritte hallen in den hohen Räumen wider. Sie begleiten meinen Gang, führen durch die Halle und von ihr in den Speisesaal. Ein kleiner Baum steht dort, liebevoll geschmückt mit kleinen Kugeln, Kerzen und feinen Goldstreifen. Auf dem Tisch brennt eine Kerze. Der Duft von Gebratenem zieht von der Küche her auf. Er lässt mir das Wasser im Munde zusammenlaufen und zeigt mir gleichzeitig, was ich niemals wieder kosten kann. Der Geschmack von Wild, einer Gans oder von Fisch – so fremd für mich wie jener eines guten Weins.
Mein treuer Diener steht im Hintergrund und beobachtet meinen Gang durch den Saal. Hin zu jenem Stuhl, der von einem Gast besetzt ist.
Francine ist ihr Name. Eine Französin. Welch eine Koinzidenz.
Francine. Ein Name – so süß wie ihr feines Gesicht. Sie sitzt dort auf dem Stuhl und weiß nicht einmal, warum. Sie wartet auf etwas – und weiß nicht auf was. Eine Berührung hatte genügt, um sie in meinen Bann zu ziehen. Schon am frühen Abend, gleich nach Sonnenuntergang. Wurde sie vermisst? Sicherlich. Würde man sie suchen? Bestimmt. Auch finden? Nein. Nicht in dieser Nacht. Erst am kommenden Morgen, wenn sie mein Diener jenseits des Schlosses abgelegt hatte, gerade damit man sie fand und betrauerte. Das erste Opfer seit vielen Monaten. Wer sein Zuhause nie verlässt, keine Reisen unternimmt und meist in der Bibliothek über alten Büchern sitzt, ist genügsam. Alle drei, vier Monate etwas Nahrung. Nicht mehr. Es macht meine Existenz sicher.
Mein Blick gleitet an der jungen Frau herab, die mich anschaut und doch nicht richtig wahrnimmt. Das Essen wird serviert, und hungrig greift sie zu. Es ist ein Genuss, ihr zuzuschauen, ihr Gesicht zu beobachten und zu sehen, wie gut ihr die Speisen schmecken. Der Braten, die Kartoffeln und die Süßspeise als Dessert.
Draußen ist es ruhig geworden. Die Glocke von St. George schweigt. Nun beten die Gläubigen, während auf der Burg der Tanz beginnt. Leise Klänge des Walzerkönigs. Francine liegt in meinen Armen. Sie wird mir in dieser besonderen Nacht im Jahr Gesellschaft leisten um dann, auf dem Höhepunkt unseres Vergnügens den Kuss empfangen – und um zu sterben.
Wir tanzen. Ihr Atem streift mein Gesicht, transportiert all das Leben, welches mir so sehr fehlt. Ihr Blick – verschleiert. Ihre Hingabe nur auf dem Bann beruhend, in welchen ich sie gezogen habe. Sie ist willenlos, Wachs in meinen Händen. Wir küssen uns, und sie genießt es. Wir sinken zu Boden, und sie ergibt sich mir in atemloser Erwartung dessen, was sie nicht erahnt und nicht begreift. Noch einmal sehe ich ihre feinen Züge, zeichne sie mit meinen Fingern nach. Das Leben in ihr pulsierte durch die Adern. Bald schon wird es vergehen wie Schnee im März. Ein Vampir greift wieder und wieder nach diesem Leben, und wieder und wieder wird er enttäuscht. Am Ende bleibt nur Tod und die Trauer, wieder einmal ins Leere gegriffen zu haben. Die Existenz wurde verlängert, der Unsterblichkeit gehuldigt. Aber Leben – nein. Kein Leben. Und kein Glück, keine Freude. Kein Weihnachten, denn das Christfest hat seine frohe Botschaft verloren.
Francine schaut mich an, wartet. Noch immer weiß nicht, auf was sie eigentlich wartet und was sie von mir erwartet. Wüsste sie es, würde sie von blankem Entsetzen gepackt durch das Gemäuer zum Ausgang eilen, um ihr Seelenheil in der Flucht zu suchen. Da sie es aber nicht einmal erahnt, liegt sie vor mir und wartet.
Wie kann ich an einem solchen Abend, der voll Friede und Liebe sein soll, den Tod bringen? Wie kann ich es wagen, mich gegen das Weihnachtsfest zu versündigen? Der Brauch, gerade an diesem Abend meinen Durst zu stillen, erscheint mir plötzlich ketzerisch. Etwas lange Verborgenes und längst verloren Geglaubtes meldet sich mit einer nie erahnten Vehemenz – mein Gewissen. Mein Tun – so falsch, dass ich von eigener Abscheu gepackt aufspringe, den Bann aufhebe und Francine erwachen lassen. Sie schaut sich fragend um, sieht mich und begreift nicht. Noch nicht. Aber die Zeit läuft. Sie muss gehen, bevor sie zu einem Risiko wird. Für mich und meine Existenz.
„Geht“, flüstere ich leise und wende mich von ihr ab. Sie steht auf, noch immer nicht begreifend, was in den letzten Stunden geschehen ist. Mein treuer Diener eilt herbei, um sie in die Stadt zu geleiten. Erst an der Tür halte ich sie noch einmal auf, sehe in ihrem Blick den Funken der Erkenntnis. Sie schaut mich an, fragend und auch... ängstlich.
Es gibt so viele Dinge, welche ich ihr sagen und so vieles, um das ich sie bitten möchte. Eine Kerze in St. George für meine Seele. Vielleicht eine Blume auf dem Grab meiner Eltern in der Kirche. Doch ihr Blick allein nimmt mir die Kraft dazu. Nun, von Mensch zu Vampir, spüre ich ihre Stärke. Die Stärke, die jedem lebenden Wesen innewohnt. Ihre Gedanken und Gefühle, ihre Hoffnungen und Ängste.
„Frohe Weihnachten.“
Mehr kommt nicht über meine Lippen. Nur diese zwei Worte.
Frohe Weihnachten.
Ende
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