An der Bar
An der Bar
Braun war sie, die halbrunde Theke, und schmutzig. Da konnte der Wirt noch so viel Politur nehmen.
Es war kein Schmutz im eigentlichen Sinn, sondern der Dreck der Jahre, der hier hängen geblieben war. Und wer weiß, vielleicht zählten wir damals auch zu einem solchen Dreck.
Damals.
Wie sich das anhört.
Gerade mal ein Jahr ist es her, dass ich meine Abende in der kleinen Bar verbrachte. Wir kamen uns vor wie eine verschworene Clique.
Da war Alex, das Whiskyfass. An einem guten Abend schaffte er neun oder zehn Doppelte. Und für ihn waren alle Abende irgendwie gut. Meist hockte er schon da, wenn ich von der Schicht kam. In seinem blauen Overall, übersät mit Ölflecken, die uns weismachen sollten, dass er etwas gearbeitet hatte. Aber die Ölflecken waren schon alt oder stammten von seinem Rasenmäher, den er alle paar Monate reparierte, ein paar Bahnen auf seinem verwilderten Rasen mähte und ihn dann wütend in die Ecke schob, weil er schon wieder den Geist ausgehaucht hatte. Früher einmal war Alex ein guter Mechaniker gewesen. Viele Leute brachten ihr Auto in seine kleine Werkstatt. Aber auch das war lange vorbei. Irgendwann fiel er besoffen in eine Ölkanne. Hinterher klappte es nicht mehr so recht mit dem Gedächtnis. Zudem versoff er einen Kredit von der Bank, und irgendwann holten sie ihm seine Werkstatt ab. Jeder wusste es. Aber Alex wusste nicht, dass wir es wussten. Oder er tat nur so, keine Ahnung. Jedenfalls erzählte er immer von den schwierigen Reparaturen und den verzwickten, neumodischen Motoren. Wie ließen ihn reden. Irgendwann, spätestens nach dem siebten Whisky, wurde er ruhiger, und der Elfte ließ ihn an der schmutzigen, braunen Theke einschlafen.
Thomas war das genaue Gegenteil. Er kam jeden Abend zur selben Zeit, nahm stets zwei Bier und einen Aquavit und verließ die Bar wieder, pünktlich um sieben dreißig. Zu Hause warteten Frau und Kind. Thomas war ein Unikat in dieser schmutzigen Welt der Bar. Stets korrekt gekleidet, mit Anzug, Krawatte und kleinem, schwarzen Lederkoffer. Was er darin trug – wir haben es nie erfahren. Irgendwie gefiel er sich in der Rolle eines englischen Gentleman, und niemals wären wir auf die Idee gekommen, ihn Tom oder Tommy zu nennen. Er war Thomas. Steif, korrekt, pünktlich.
Der dritte im Bunde war Stefan. Er war der Jüngste von uns, mit seinen zweiundzwanzig Jahren. Arbeitete bei der Straßenreinigung, was ja im Grunde auch kein schlechter Beruf war. Angestellt bei der Stadt. Erzählte er. Bis wir rausbekamen, dass es eigentlich nur ABM war, und er ursprünglich hatte Maler werden wollte. Konnte er wirklich malen? Wer weiß.
Blieb noch der Letzte – ich. Über 40 und seit drei Jahren Witwer. War ein verdammtes Ding damals. Sollte eine Urlaubsreise werden, und wurde für meine Frau ein Trip in den Tod, während ich ein paar Wochen im Krankenhaus lag. Schade, hätte auch umgekehrt sein können. Dabei waren wir nicht mal Schuld. Aber ich will hier keine ollen Kamellen aufwärmen.
Nach dem Tod von Eveline fing ich an, in der Bar rumzuhängen. Erst, um meine Einsamkeit im Bier und Schnaps zu ertränken. Bis ich merkte, dass sie schwimmen konnte. Dann, weil ich die Typen kennen gelernt hatte und mir einbildete, wir seien eine verschworene Gemeinschaft. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit und all so was.
Waren wir aber nicht.
Wir waren gemeinsam einsam, jeder auf seine ganz eigene, kaputte Art. Das Schlimmste daran jedoch war, dass wir es nicht merkten. Besoffen von dem Gefühl, zusammen zu gehören spürten wir nicht, dass uns etwas Gravierendes fehlte.
Erst als die Sache mit Thomas geschah, ahnten wir, dass da einiges im Argen lag.
Es war ein ganz normaler Tag. Wie immer hatte ich meine Schicht in der Autofabrik hinter mich gebracht und saß nun mit meiner kleinen Kunstledertasche auf dem Barhocker, starrte in das trübe Gelb des Biers und wartete.
Die Kunstledertasche war ein Geschenk meiner Frau gewesen; zu unserem fünfzehnten Hochzeitstag. Mein Brot befand sich darin, und die Bildzeitung. Was man für die zu kurzen Pausen in der riesigen Kantine des Autowerks halt so braucht. Und natürlich der unvermeidliche Kaffee, stark und schwarz mit acht Stückchen Zucker. Er schmeckte scheußlich, da ich nie gelernt hatte, Kaffee zu kochen. Er hielt mich wach, das war genug.
Aber zurück zu der Bar.
Sie war in einem Bahnhof untergebracht, doch der Eingang lag etwas versteckt. Zudem war es kein vielbefahrener Bahnhof. Reisende verirrten sich kaum in den dunklen, engen Schankraum.
Es waren immer die selben Gesichter, die sich an den Tischen rumdrückten, auf Deckel was tranken und sich selbst an ihrer Größe berauschten, die politische Wahrheit gepachtet zu haben.
Denn es gibt prinzipiell zwei Charaktere in einer solchen Kneipe.
Jene, die kommen um zu den Alltag zu vergessen und solche, die kommen, um ihn in langen Stammtischdebatten besser zu machen.
Ich gehörte zur ersten Gruppe.
Ich saß also auf dem schmalen Hocker und starrte in mein Bier. Die Anderen waren noch nicht da. Erstaunlich. Vor allem für Thomas. Der so pünktliche, korrekte Thomas verspätete sich.
Dann kam Alex.
Er trug seinen blauen Overall mit den Ölflecken.
So wie immer.
Er bestellte einen doppelten Whisky.
So wie immer.
Dann starrte er in sein Glas, nahm es in die Hand und warf es durch den Raum.
Irgendwo klirrte es gegen die Wand, zersprang in viele hundert Stücke.
Das war neu.
Nach dem Wurf starrte er den Wirt an, der ihm drohte, ihn rauszuschmeißen.
Dann lachte er und schaute mich an. Es war nicht direkt Wahnsinn, der in seinen Augen flackerte. Vielmehr eine große Portion Unverständnis.
„Was ’n los?“, hab ich ihn gefragt.
„Thomas ist durchgedreht. Einfach so. Hat seine Frau erstochen. Mit ’nem Küchenmesser. Anschließend seine Tochter. Im Bett. Kehle durchgeschnitten und so. Dann sich selbst. Messer in die Brust. Hat’s aber überlebt, das arme Schwein.“
Einen Moment saßen wir schweigend auf unserem Hocker, bevor ich nach meinem Bierglas griff, und es gegen die Wand warf.
Warum?
Keine Ahnung.
Wut, Hass auf die Welt.
Thomas!
Der stets korrekte, pünktliche Mann mit dem schwarzen Aktenordner, dem Anzug und der Krawatte. Seine Frau und sein Kind. Tot. Warum?
Stefan hatte auch keine Ahnung.
Er kam zehn Minuten nach Alex, wusste aber schon, was passiert war.
Thomas.
Stefan warf sein Glas nicht gegen die Wand, sondern trank es aus. Und noch eins. Und ein drittes.
Nur das harte Zeug für ihn an diesem Abend.
Dann kotzte er auf den Tresen, weil er das harte Zeug nicht vertrug.
Und ich dachte nur: Thomas. Nicht Thomas. Wenn es ihn schon erwischte, den Wahnsinn meine ich, dann kann es jeden von uns erwischen. Und das machte mir eine Scheißangst.
Später, zu Hause und nach ein paar Bier mehr als normal, versuchte ich mir vorzustellen, was in ihm vorgegangen war. Warum hatte er das gemacht? Allein in meinem großen Wohnzimmer fühlte ich mich, als würde die Decke immer näher kommen, um mich irgendwann zu zerquetschen. Also raus aus dem Haus.
Die Nachtluft war kühl.
Es war Mittwoch, und ich hätte schlafen müssen. Hab es nicht getan, sondern bin zurück in die Bar. Sie hatte bis drei oder so geöffnet, falls sich irgendwelche Reisende hierher verirrten, die den letzten Zug verpasst hatten.
War keiner von meinen Kumpels mehr da.
Dafür saß Mathilda auf einem der Hocker.
Mathilda, die Säuferin.
Mathilda, die Pennerin.
Drei Pullis übereinander, darunter wollene Unterhosen. Eine Wohnung hat sie, glaub ich, aber ich weiß nicht, wo. Irgendwo im Osten der Stadt, dort wo die alten Mietskasernen stehen. Anonymität für den, der sie will und auch für jenen, der sie nicht will. Das Ostend ist ein Beton-Ghetto ohne Farbige. Denn Farbige wollen hier nicht wohnen. Sind dafür zu klug.
Mathilda glotzte in ihren Schnaps. Billigster Fusel, den sie mit dem Geld bezahlte, dass sie sich draußen auf der Straße zusammenbettelte. Sie war knapp über fünfzig, nicht mehr attraktiv und trug keinen BH. Ihr Hängebusen schlabberte unter den Pullis umher. An diesem Abend war es mir egal. Es war mir auch egal, dass sie nach Pisse roch, weil sie sich nur selten die Mühe machte, Toilettenpapier zu benutzen.
Ich hockte mich neben sie und erzählte.
Von Thomas, meiner Frau, Alex und seinem Rasenmäher.
Ihre Augen schimmerten bereits glasig, und wahrscheinlich nahm sie nicht mal ein Drittel von dem auf, was ich ihr sagte.
Nach drei Cola verließ ich die Bar. Ja, Cola, denn Bier hatte ich genug. Zudem wollte ich die Nacht nicht allein verbringen, brauchte jemand, der mir half.
Eine Nutte.
Also rein in die Stadt, weg von unserem kleinen Vorort und hin zu einem so viel größeren Bahnhof.
Dort standen sie.
Freie Auswahl auf dem Fleischmarkt, der erst in der Nacht so richtig in Schwung kommt.
Nahm mir eine Polin. Blonde Haare, riesige Oberweite, starrer Blick.
Wir verschwanden in einem kleinen Haus drei Querstraßen weiter. Sie wohnte hier, zusammen mit ein paar Kolleginnen. Auf dem Weg dorthin fiel kein Wort. Dann, als wir ihr enges, nur mit einem Bett und einer Kommode ausgestattetes Zimmer erreichten, nannte sie den Preis. Fünfzig, damit sie mir einen blies, hundert für eine Nummer und dreihundert für alles. Ich zahle die dreihundert und zog mich aus. Dann redete ich. Über Thomas, Alex und seinem Rasenmäher. Und über Mathilda und ihre verpisste Unterwäsche.
Sie hörte mir zu, nickte.
Dann streifte sie einen Gummi über mein Ding und es ging los. Mit dem Mund.
Nach einer halben Stunde hörte sie auf, weil es nichts brachte. Immer wieder sah ich Thomas, dachte daran, dass es und auch so ergehen konnte und bekam wieder diese Angst.
Aber keinen Ständer.
Als ich ging, lächelte sie. So leicht hatte sie wohl selten Dreihundert verdient. Zum Schluss meinte sie, ich solle meine Frau Mathilda grüßen. Sie hatte kein Wort von dem verstanden, was ich ihr erzählt hatte. Scheiße.
Irgendwann in dieser Nacht erkannte ich, dass es keinen gab, der mir zuhören konnte. Nicht für Geld und auch nicht aus Freundschaft.
Gibt es nämlich nicht mehr. Freundschaft. Nur noch Egoismus. Ist gut, so lange es dich weiterbringt. Ist beschissen, wenn du daran zugrunde gehst. So wie ich in jener Nacht. Bin dann wieder nach Hause. Die Decke wollte mir noch immer auf den Kopf fallen, aber bevor sie mich erreichte, schlief ich ein. Im Sessel. Mit Kleidern. Egal.
Ein paar Tage später hörten wir, dass es Thomas doch nicht geschafft hatte. Seine Verletzungen waren zu stark, er sei innerlich verblutet.
Niemand von uns hatte ihn besucht.
Warum nicht?
Was hatte uns davon abgehalten?
Angst!
Und Scham!
Und weil wir eben doch nicht diese Gemeinschaft waren, nicht zusammengehörten. Keine eingeschworene Clique.
Im Grunde ging es jedem nur um sich. Und jetzt schämten wir uns dessen. Die letzte Chance – vorbei.
Alex fluchte, als er von Thomas Tod hörte, und warf ein Whiskyglas gegen die Wand.
Stefan bestellte das harte Zeug und kotzte es wieder auf den Tresen. Er vertrug das harte Zeug einfach nicht.
Ich starrte in mein gelb-trübes Bier und spürte, das wir raus mussten. Nicht aus der Bar, sondern aus diesem Leben. Es machte mich kaputt. Es machte Alex kaputt. Es machte Stefan kaputt.
Also sagte ich es ihnen.
Sie lachten freudlos, tranken und lachten noch mehr. Wir seien eine Gemeinschaft, müssten zusammenhalten.
Sie hatten es nicht kapiert. Vielleicht waren sie kaputter als ich, oder noch nicht so kaputt, als dass sie es erkannt hätten.
Ich ging und kam nicht mehr zurück. Weder an diesem Abend noch an einem anderen. Hab aufgehört, Bier zu trinken, hab aufgehört, in Bars rumzuhängen und anderen zuzusehen, wie sie sich fertig machen. Spiele jetzt wieder Fußball bei den Alten Herren. War früher ganz gut drin, und die Knochen wollen noch.
Von Alex hab ich gehört, dass er mal im Krankenhaus lag. Sein Rasenmäher. Stefan fegt noch immer die Straße. Und abends treffen sie sich, um sich an ihrer Gesellschaft zu berauschen. Mathilda hat jetzt meinen Platz eingenommen. Mathilda mit den drei Pullovern und der verpissten Unterwäsche. Sie soll sehr beliebt sein. Vor allem bei Stefan.
Ende
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